Naturwissenschaft – Offenbarung oder Denkmodell ?

 

Die moderne universitäre Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft, bedient sich statt der unmittelbaren Anschauung schon lange indirekter Methoden. Heutzutage sind das in der Regel Computerprogramme. Man kann sich das so vorstellen, als nehme man die Umwelt ständig durch ein Kameraobjektiv wahr, von dem man nicht wissen kann, wie stark es Form und Farbe des beobachteten Objekts bereits verzerrt. Das dadurch Erkannte ist nicht unbedingt falsch, aber immer interpretationsbedürftig. Und übersehen darf man auch nicht, dass die Wissenschaftler die übrigen Menschen durch diesen Umstand in der Hand haben! Nur sie können uns erklären, was sie da wirklich oder angeblich sehen. Wir müssen es ihnen glauben.


Auf diese Weise kann die Wissenschaft auch missbraucht werden. Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums in Davos, hat kürzlich ein Buch geschrieben: „Covid-19: Der große Umbruch“. Dort kann man neben vielen anderen Ungeheuerlichkeiten auf Seite 68 lesen, das Leben der Menschheit solle sich zukünftig am besten zwischen zwei Grenzen bewegen: einem „Minimum, das wir brauchen, um ein gutes Leben zu führen“, und einer „von Weltsystemwissenschaftlern festgelegte(n) ökologische(n) Obergrenze“. Wie bitte? Was der Weltsystemwissenschaftler sagt, gilt? Kontrolliert den jemand, hat den jemand gewählt (ach wer wird denn so pedantisch sein)? – Solche Dinge werden gern so nebenbei dahingesagt, möglichst beiläufig, als spräche man damit keine Ungeheuerlichkeit aus. Und was, bitte schön, ist überhaupt Weltsystemwissenschaft? Kann man das irgendwo studieren?


Michael Esfeld schreibt in seinem Buch „Wissenschaft und Freiheit“ (Suhrkamp 2019) das genaue Gegenteil von Schwab, er hält es für „verfehlt … anzunehmen, dass aus der Wissenschaft Normen folgen, die vorgeben, wie wir die Gesellschaft … zu gestalten haben.“ Der Szientismus, eine Spielart der Aufklärung (aber eine andere als Kants) habe diese merkwürdige Idee ins Spiel gebracht, „dass naturwissenschaftliches Wissen unbegrenzt ist und auch den Menschen und alle Aspekte unserer Existenz“ umfasst (Esfeld). Na, das ist ja eine schöne Aufklärung, in der die Allmacht Gottes durch die Allmacht der Wissenschaft ersetzt wird: Vorher glaubte man an die göttliche, jetzt an die wissenschaftliche Offenbarung!

 

Esfeld ist Professor für Wissenschaftsphilosophie und Mitglied der Leopoldina, also der Akademie der Wissenschaften, deren Leitung am 8. Dezember 2020 einen harten Lockdown gefordert hatte – leider ohne ihre Mitglieder zu fragen. Der erboste Esfeld schrieb noch am selben Tag an die Leitung einen Brief, der sich gewaschen hat: „Diese Stellungnahme verletzt die Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Redlichkeit … Es gibt … keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die bestimmte politische Handlungsempfehlungen wie die eines Lockdowns rechtfertigen. Wir haben es mit … einer wissenschaftlichen Kontroverse zu tun.“ Die Wissenschaft ist sich also nicht einig, und wenn einer sagt „Die Wissenschaft hat festgestellt ...“, dann lügt er, egal wie der Satz weitergeht. Wir erleben im Moment, wie in den Medien versucht wird, abweichende Lehrmeinungen mit schnittig formulierten „Faktenchecks“ wegzumobben. Dieselben Medien aber präsentieren uns seit Jahren den von Schwab herbeiphantasierten „Weltsystemwissenschaftler“. Er war gestern der Ökonom, der uns den Neoliberalismus, dann der Meteorologe, der uns den Klimawandel, jetzt ist er der Virologe, der uns die Pandemie verkaufen möchte. Und morgen?


In Wirklichkeit bietet die Wissenschaft, auch und gerade die „exakte“ Naturwissenschaft, immer „nur“ Denkmodelle an, die helfen, sich etwas zu erklären, aber nicht identisch mit der wahren Wirklichkeit sind. Auch die bahnbrechendsten Erkenntnisse der Wissenschaft sind allesamt Theorien: Evolutionstheorie, Atomhypothese, Relativitätstheorie. Ich glaube, mit allerletzter Sicherheit weiß niemand, ob wir uns nicht vielleicht doch in einem Irrtum mittelalterlichen Ausmaßes befinden … Man könnte einwenden: Dann wäre die Wissenschaft ja nichts wert! Das stimmt nun auch wieder nicht. Um das zu verdeutlichen, unternehme ich einen kurzen Ausflug ins Reich der Musik und der Sprache. Auch diese beiden bedienen sich zum Zwecke der Kommunikation eines Modells: Die Sprache hat ein Buchstabensystem und die Musik ein Notensystem. Jeder musikalische Mensch weiß, dass das Wesentliche der Musik durch die Noten nicht ausgedrückt werden kann; man sagt gern, dieses Wesentliche passiere zwischen den Noten. Genauso kann der Klang einer Sprache nicht annähernd durch Buchstabenfolgen allein dargestellt werden. Beide Systeme bilden also bei weitem nicht die Wirklichkeit ab, eignen sich aber trotzdem wunderbar, um die Kultur der Sprache und der Musik zu verbreiten: Ohne sie gäbe es keine Symphonien, kein Theater und keine Bücher. Sie sind also unverzichtbar, ohne völlig wahr zu sein. Die Musiker und die Dichter stört das nicht; sie leben in dem Bewusstsein, dass es zum einen ihr Zeichensystem und zum anderen die künstlerische Wirklichkeit gibt und dass beide zwar in einem engen Bezug zueinander stehen, aber nicht identisch sind.

 

In demselben Bewusstsein muss auch die Wissenschaft agieren. Sonst besteht, wie bereits angedeutet, die Gefahr, dass sie zur Wissenschaftsdiktatur führt. Vielleicht sind wir sogar schon dort angekommen. Lasst uns also genau hinschauen, wie sich Wissenschaftler aufführen! Wer von ihnen behauptet, seine Erkenntnis wäre die einzig wahre und bahnbrechende, verdient nichts als unser Misstrauen. Eher können wir jemandem vertrauen, der zugibt, dass er sich der Wirklichkeit immer nur annähert, wer Widerspruch, ständiges Dazulernen und Irrtum einkalkuliert. Bereits anfangs sprach ich kurz vom Irrtum; hier ist er wieder. Wer sich selbstständig zu denken traut, muss der Möglichkeit des Irrtums ins Gesicht schauen. Sonst erstarrt der Forschergeist, ihm wird dann die nötige Demut und gleichzeitig die nötige Verwegenheit fehlen. Sein Denken wird dogmatisch, unflexibel und unfähig, den nie endenden Weg des Lernens zu gehen …

 

Im Lichte dieser Betrachtungen muss es zu denken geben, auf welche Art und Weise ein Wissenschaftler wie Prof. Drosten mit anderen Lehrmeinungen umgeht. Es war zum Beispiel ein gezielter Affront gegen einen prominenten Kollegen, als er öffentlich äußerte, er halte nichts von „irgendwelchen Sonntagsreden“, die besagen, dass „man mit dem Virus leben lernen muss“ eine klare Anspielung auf eine Rede von Prof. Streeck im Münsteraner Dom, der genau das dringend nahegelegt hatte: „mit dem Virus leben zu lernen“. Zahlreiche promovierte und habilitierte Mediziner und Juristen nennt Drosten „dahergelaufene Ärzte“, „Halbwissenschaftler“ und „Verrückte“, weil sie seine Ansicht nicht teilen. Und die Drostens dieser Welt sollen nun die Grenzen menschlichen Handelns festlegen? Wenn das so kommt – wenn das so bleibt, muss es momentan heißen –, kann ich nur noch mit Reinhard Mey sagen: „Gute Nacht Freunde, es wird Zeit für mich zu gehn …“

 

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Jürgen Plich
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