Musik und Propaganda

 

Ich bereite gerade ein Klavierabendprogramm vor, das mit der Toccata des georgisch-armenischen Komponisten Aram Chatschaturian (1903-1978) beginnen soll; ferner spiele ich die F-dur Sonate des ukrainischen Komponisten Dmitri Bortnjanski (1751-1825). Als Hauptwerk des Abends werden die Bilder einer Ausstellung des russischen Komponisten Modest Mussorgsky (1839-1881) erklingen.

 

Ein solches Programm ist, wie ich nun erfahren habe, politisch nicht korrekt. In der neuesten Ausgabe der Musikzeitschrift „Concerti“ ist ein Artikel von Volodymyr Sheiko abgedruckt, dem Generaldirektor des 2017 gegründeten „Ukrainischen Instituts“, eines Kulturinstituts, das dem ukrainischen Außenministerium untersteht; und dieser Artikel belehrt mich darüber, dass man Werke russischer und ukrainischer Komponisten aktuell nicht im selben Konzert spielen sollte, weil es „unangebracht ist, Musik des Angreifers und des Angegriffenen bei derselben Veranstaltung aufzuführen“. „Und jetzt ist die Gelegenheit für Musikschaffende und Veranstalter, nicht mehr zum x-ten Mal Mussorgsky oder Schostakowitsch zu programmieren, sondern neues Repertoire zu entdecken“.

 

Ich verstehe. Musik von Schostakowitsch oder Mussorgsky ist also „Musik des Angreifers“, und daneben gibt es Musik von „Angegriffenen“. Und wer „Angreifer“ und wer „Angegriffener“ ist, hängt von der Nationalität bzw. Volkszugehörigkeit ab. – Dass das ausgekochter Blödsinn ist, zeigen folgende drei Beispiele:

 

1. Dmitri Schostakowitsch wurde bekanntlich sein Leben lang von der sowjetischen Führung gequält: Stalin (übrigens kein Russe, siehe nächster Absatz) hatte sich in den 30er Jahren eine Aufführung der Oper „Lady Macbeth von Mszensk“ angeschaut und sie hatte ihm leider nicht gefallen. Seitdem verbrachte Schostakowitsch keinen ruhigen Tag mehr, sondern fürchtete jahrelang um sein Leben. Julian Barnes schrieb 2017 darüber einen beklemmenden, aber lesenswerten Roman: „Der Lärm der Zeit“. Was war nun Schostakowitsch: als Russe ein Angreifer oder als politisch Verfolgter ein Angegriffener?

2. Wie Schostakowitsch wurde auch der in Georgien geborene Armenier Aram Chatschaturian von der sowjetischen Regierung gemaßregelt, und auch ihn hatte Stalin persönlich im Visier. Warum? Etwa weil der Diktator Russe war und der Komponist Armeinier? – Nein! Die Ironie der Geschichte wollte, dass Stalin und Chatschaturian in derselben Stadt geboren wurden: im georgischen Tiflis. Keiner von beiden war Russe.

3. Der ukrainische Komponist Dmitri Bortnjanski wurde 1751 in Hluchiw geboren. Dies war damals die Hauptstadt des sogenannten „Hetmanats“, eines zum russischen Zarenreich gehörenden teil-autonomen Kosakenstaates; heute liegt die Stadt Hluchiw in der Ukraine. Bortnjanski lebte später in St. Petersburg, wurde vom Zar in hohe Ämter gehievt und wurde zu einem wichtigen Vertreter eines russischen Kirchenmusikstils. Also, was war Bortnjanski denn nun? Russe oder Ukrainer? Angreifer oder Angegriffener?

 

Thomas Röper schrieb am 6. April 2022 über propagandistische Berichterstattung in westlichen und ukrainischen Medien folgendes: „Ich weise seit Jahren auf einen wichtigen Unterschied in der Arbeit der Medien in Russland einerseits, und in der Ukraine (und auch im Westen) andererseits hin. Da ich sehr viele Beiträge des russischen Fernsehens und anderer russischer Medien übersetze, kann jeder leicht überprüfen, dass es diesen Unterschied gibt. Der Unterschied liegt darin, dass es in Russland niemals – weder in Geschichtsbüchern, noch in Filmen oder gar den Nachrichten – eine hasserfüllte Pauschalisierung eines Volkes gibt. In Russland wird immer die Regierung eines Landes kritisiert, nie das Volk. Selbst im Zweiten Weltkrieg hat man in Russland einen Unterschied zwischen Nazi-Deutschland und ,den Deutschenʻ gemacht. … Im Westen hingegen ist es anders, da verteufeln die Medien alles Russische. Das mag Ihnen nicht auffallen, weil Sie in Deutschland leben und es nicht anders kennen. Aber wie sonst lässt es sich erklären, dass plötzlich in Deutschland Übergriffe auf Russen stattfinden, nur weil sie Russen sind? Oder dass Restaurantbesitzer keine Russen mehr bedienen wollen? Oder dass bei Facebook ganz explizit Aufrufe zur Ermordung von Russen nicht mehr als Hassrede gelten und explizit erlaubt wurden? … Die Folgen kann man nun erleben. Im Westen gibt es Übergriffe gegen Russen, egal ob sie für oder gegen den russischen Einsatz in der Ukraine sind. Es reicht, wenn jemand Russe ist, um angepöbelt oder in der Schule geschubst zu werden. Soweit haben es die Medien mit ihrer emotionalen ,Berichterstattungʻ gebracht.“

 

Als ich das las, war ich skeptisch – und geneigt, dem Autor maßlose Übertreibung zu unterstellen! Aber nach der Lektüre des „Concerti“-Artikels neige ich eher dazu, ihm zu glauben. Propaganda läuft offenbar anders als wir meinen; sie wird nicht unbedingt immer marktschreierisch, „bildzeitungsartig“, dick aufgetragen, sondern versteckt oder wie hier zwar offen, aber mit pseudo-kultivierter Attitüde vorgetragen. So wird die diskriminierende, menschenverachtende Haltung übersehen – und die kann dann leicht ins Unterbewusstsein kriechen. Auch dem Chefredakteur muss das passiert sein. Anders ist es nicht zu verstehen, dass er einen solchen Artikel passieren ließ und zum Druck freigab.

 

Denn: Russische Komponisten als „Angreifer“ zu stigmatisieren, und zu fordern, „nicht mehr zum x-ten Mal Mussorgsky oder Schostakowitsch zu programmieren“ (unter dem Vorwand, „neues Repertoire zu entdecken“), was ist das anderes als ein gezielter Angriff auf die russische Kultur? Merken Sie das? Klar: Sie sollen nicht merken, dass hier die ukrainische Musik gezielt gegen die russische ausgespielt wird. Denn warum sollte ukrainische Musik statt russischer Musik gespielt werden? Nimmt etwa speziell die russische Musik der ukrainischen den Raum weg („Lebensraum“ im Konzertsaal)? Das ist bösartiger Quatsch! Man könnte ja auch ukrainische Musik statt deutscher, französischer, italienischer oder skandinavischer Musik spielen! – Also, Sie merken schon, das ist alles Blödsinn. Ja, Ukrainische Musik sollte gespielt werden, unbedingt. Sie ist sicherlich eine Bereicherung (so wie andere unbekannte Musik, etwa finnische, irische oder griechische). Aber dafür muss man nicht irgendeine andere opfern, erst recht keine russische. Wer solche Entweder-Oders aufstellt, ist auf einem gefährlichen Weg.

 

Genug davon: Es macht keinen Spaß, im Morast zu waten. Aber es musste gesagt werden. Passen Sie auf, wo Sie mit unterschwelliger Propaganda verführt werden sollen. Unfassbar ist die Dummheit, mit der sich Schein-Intellektuelle aufs Glatteis locken lassen, da ist diese Zeitungsredaktion keine Ausnahme. Die Welt der Politik und Journalistik ist voll davon; einen Sachverhalt zu durchdringen, ihn seriös zu durchdenken und zu tragfähigem Handeln zu kommen, dazu sind wenige in der Lage. Das gilt leider auch für Kulturschaffende.

 

 

Jürgen Plich
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