Spätwerke von Beethoven

in diesen schweren Zeiten

 

Es war mir ein großes Bedürfnis, mich in diesen Corona-Zeiten mit dem späten Beethoven zu beschäftigen. Deshalb – nachdem alle Konzerte den Zwangsmaßnahmen zum Opfer fielen – übte ich seine beiden letzten Klaviersonaten, op. 110 und op. 111, ging in zwei Studios und spielte sie dort.

 

Eine Einführung in die Sonate op. 110 finden Sie hier. Springen Sie gleich dorthin, wenn Sie mögen. Aber hilfreich ist es für das Verständnis, wenn Sie zunächst diesen einleitenden Text lesen.

 

Diese letzten Beethoven-Sonaten sind hochspirituelle Musik, die ich als Gegengift zu dem überbordenden Materialismus, der uns in diesen Zeiten umgibt, dringend brauche. Der war nicht zu allen Zeiten so beherrschend wie heute. Für mich ist es unvorstellbar, dass man etwa mit den Menschen der Beethovenzeit ein solches gesellschaftliches Experiment hätte durchführen können, wie es jetzt mit uns geschieht. Das funktioniert nur mit Menschen, die völlig im Materialismus gefangen sind.

 

Um das zu verstehen, müssen wir den Begriff „Materialismus“ zunächst einmal definieren. Meist versteht man darunter eine Fixierung auf materielle Güter sowie den Wunsch, solche Güter anzuhäufen und aus dem daraus resultierenden Wohlstand eine oberflächliche Befriedigung zu ziehen. Das ist nicht falsch, aber man kann den Begriff noch weiter und tiefer fassen. Er bezeichnet nämlich nicht nur einen Lebensstil, sondern eine Weltanschauung. Wir müssen eigentlich sagen: Ein Materialist ist ein Mensch, für den es nichts gibt außer Materie, also den Stoff, den wir sinnlich wahrnehmen, anfassen, riechen, schmecken, aus dem unser Körper gemacht ist und der unseren Körper umgibt. Der Materialist akzeptiert die Vorstellung nicht, es könne etwas anderes geben als Materie. Seelische und geistige Erfahrungen sind für ihn nichts Eigenständiges, sondern lediglich Ergebnisse und Folgeerscheinungen materieller Vorgänge im menschlichen Körper, und er glaubt, sie seien auch nur so erklärbar. Zum Beispiel erklärt er Gefühle damit, dass im Gehirn bestimmte Botenstoffe, Neurotransmitter, Hormone etc. wirken, und folglich behandelt die moderne Psychologie Verhaltensauffälligkeiten am liebsten mit Chemikalien, die in diese körperlichen Vorgänge regulierend eingreifen. Das ist natürlich bequem …

 

Aber mir scheint, dass der Materialist bei allem, was er an Erkenntnissen über die Welt gewinnt und äußert, schnell in Erklärungsnot kommt. Denn nach seiner eigenen Logik muss er nun auch sein Denken für eine Folge rein materieller Vorgänge halten; sein Gehirn produziert ja nach seiner Vorstellung Gedanken geradeso wie andere Organe Sekrete. Und das, was das Gehirn ausscheidet, kann keine größere Bedeutung beanspruchen als das, was andere Organe ausscheiden (etwa der Darm). Der Materialist muss sogar davon ausgehen, dass das, was er sein „Ich“ nennt, ihm vom Gehirn nur vorgegaukelt wird, und der Satz „Ich denke“ müsste für ihn konsequenterweise ein völlig sinnloser Satz sein, denn in seinem Weltbild existiert kein substanzielles „Ich“, das autonom denken könnte. Und da das „Ich“ völlig vom materiellen Körper abhängig ist, stirbt es selbstverständlich auch mit ihm.

 

Die meisten Menschen würden es zu Recht als Zumutung weit von sich weisen, wenn sie sich nicht als „Ich“ betrachten dürften und man ihnen sagen würde, sie könnten eigentlich gar nicht eigenständig denken. Viele Menschen spüren ja auch in sich etwas wie das Folgende: „Ich bin ein einzigartiges Wesen, das aus einem sterblichen Körper, empfindender Seele und unsterblichem Geist besteht und in diese Welt gestellt ist, um irgendeine sinnvolle Aufgabe zu übernehmen. Ich weiß nicht genau, wo ich vor meiner Geburt war, und ich weiß nicht genau, wohin ich nach meinem Tode gehe, aber ich fühle, dass ich nicht zufällig hier bin“. Dennoch herrscht offizell der Materialismus: In der Medizin werden auf einem anderen Weltbild beruhende Heilmethoden wie die Homöopathie hart bekämpft, und wer sich zu einem Bekenntnis der soeben formulierten Art durchringt, läuft Gefahr, verlacht zu werden. Schwerlich wird man auch einen zeitgenössischen Komponisten finden, der eine Musik betiteln würde „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit“, wie Beethoven es tat. Wenn wir überhaupt danken, dann höchstens dem Chirurgen.

 

Ja, selbst die Religionen hat der Materialismus im Griff. Oder hat man während der heißen Corona-Phase irgendeinen Bischof dazu aufrufen hören, sich in den Kirchen zu versammeln, um zur Gottheit zu beten in der festen Überzeugung, dass von dort Kraft und Hilfe kommen? Ich verstehe nicht, warum diese himmelschreiende Unterlassung nicht zu einer Revolution im Kirchenvolk führte: Für seine Anführer ist Gott anscheinend wirklich tot, sie haben keinen Glauben mehr an ihn. Man muss sich diesen Zynismus einmal auf der Zunge zergehen lassen: In Zeiten der Not verwehren geistliche Oberhäupter ihren Gläubigen den Zugang zu ihren Gebetshäusern und lassen sogar das höchste und heiligste Fest ausfallen. Mit dem Schließen taten sie sich überhaupt leicht: die Senioren in ihren Caritas- und Diakonie-Altenheimen schlossen sie gleich mit weg.

 

Aber so handeln eben Materialisten: Nicht auf Mut, Zuversicht und innere Gewissheit gründen sie ihr Tun, sondern auf Rechenmodelle, Prognosen und Messergebnisse. Man kann es gut und verantwortungsvoll finden, dass auch die Kirchen sich für die „moderne Wissenschaft“ aufgeschlossen zeigen. Man kann es aber auch für eine beklagenswerte Verarmung unseres Lebens halten, wenn keine geistigen Kräfte und Impulse Einzug finden dürfen in die hermetisch abgeriegelte Welt aus Verordnungen, Verboten und Bußgeldern, in der angsterfüllte, vermummte, distanzierte Mitmenschen herumschleichen. Man kann den Materialismus also gut oder schlecht finden; wer ihn aber gut findet, der bekenne sich bitte auch dazu und sage frei heraus: „Ich bin kein autonomes ,Ich', kein Abbild meines Schöpfers, sondern nur eine Maschine aus Fleisch, Blut, Haut und Knochen, deren Denkabteilung beliebige Gedanken absondert.“ Man tue aber dann nicht so, als handele man verantwortungsbewusst, selbstbestimmt, ethisch und was dergleichen Schlagworte mehr sind.

 

Kein Wunder aber ist es, dass Menschen mit einem so dürftigen Bild von sich selbst, die nichts zu haben glauben als dieses Stückchen materieller Existenz, an diesem kleben wie die Fliege an der Leimrute: „Nimm mir nur dies nicht weg!“, rufen sie verstört, wenn ihnen gelegentlich bewusst wird, dass es einmal enden wird, „nur das nicht!“ Kein Wunder, dass sie die Wissenschaftler, die Ärzte, die Genforscher anflehen: „Könnt Ihr denn unser Leben nicht bitte bitte verlängern, noch … und noch … und noch, ja könnt Ihr nicht bitte den Tod abschaffen?“ Kein Wunder, dass man sie mit einem an sich leicht durchschaubaren Pandemie-Trick in die Panik treiben kann.

 

Schon oft habe ich aus einem Brief Mozarts zitiert, der genau andersherum dachte: „Da der Tod der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich mit diesem wahren, besten Freund des Menschen so bekannt gemacht, dass sein Bild nicht allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes, und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat, mir die Gelegenheit – Sie verstehen mich – zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennen zu lernen.“ Welche Gelegenheit hat Mozart wohl gemeint, die ihn dazu brachte, den Tod als Schlüssel zur wahren Glückseligkeit kennen zu lernen (und die auch dem Adressaten des Briefes bekannt war)? Ich weiß es nicht, kenne mich in der Mozart-Forschung nicht gut genug aus. Aber er hatte offenbar Lehrer, Mentoren, Freunde, oder auch nur Bücher, die ihm den Weg gewiesen haben.

 

Dieses Denken muss also damals in Künstler-, Philosophen-, Dichterkreisen verbreitet gewesen sein. Es macht angstfrei und setzt kreative Kräfte frei. Auch Beethoven beschäftigte sich zeitlebens mit solchen Lebensthemen. Die Lektüre der Philosophie, von Plutarch bis zu zeitgenössischen Dichtern und Denkern inklusive esoterischer fernöstlicher Lehren, gehörte zu seinen Grundbedürfnissen. Wie ich andernorts schon zitiert habe, gab es für Beethoven "keine Abhandlung, die sobald zu gelehrt für mich wäre. Ohne auch im mindesten Anspruch auf eigentliche Gelehrsamkeit zu machen, habe ich mich doch bestrebt von Kindheit an, den Sinn der bessern und weisen jedes Zeitalters zu fassen, Schande für einen Künstler, der es nicht für Schuldigkeit hält, es hierin wenigstens so weit zu bringen." Man sieht: Das war für ihn nicht intellektueller Zeitvertreib, sondern essenziell. Er war offenbar eine faustische Natur, die wissen wollte, „was die Welt im innersten zusammenhält“. Und er stellte hohe moralische Ansprüche an sich selbst, der zwar beileibe nicht immer nett war zu seinen Mitmenschen, aber z.B. immer sehr bekümmert, wenn er glaubte einen Freund verletzt zu haben; dazu gibt es rührende Beispiele. Er fühlte eben die Verantwortung des einzelnen Menschen gegenüber dem Ganzen, der Welt, dem Universum, der Gottheit. Deshalb schrieb er 1820, von Immanuel Kant inspiriert, in eines seiner Konversationshefte: „Das moralische Gesetz in uns, der Sternenhimmel über uns!“ Deshalb vertonte er Schillers Ode an die Freude – womit er sich übrigens einen Jugendtraum erfüllte! – mit Worten wie „Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuss der ganzen Welt!“ und „Alle Menschen werden Brüder“. Letzteres allerdings nicht im politischen Sinne einer One-World-Order! Sondern er singt ja die Freude an; die Weltenbrüderschaft entsteht nur dort, „wo dein sanfter Flügel weilt“! Und so kann es uns nicht verwundern, dass er seine eigene Musik folgendermaßen einschätzte: „Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie. Wem meine Musik sich verständlich macht, der muss frei werden von all dem Elend, womit sich die anderen schleppen“. Ja, das ist eine Gesinnung, das ist ein Anspruch, nicht wahr? Mit Musik die Menschen vom Elend zu befreien!

 

Dieses Ziel erreicht Beethoven – vor allem in seinen letzten Werken – nicht dadurch, dass er uns mit schönen Melodien berieselt. Das kann er zwar auch, aber tut es nur, wenn er z.B. einer reizenden jungen Dame namens Elise ein Geschenk macht. Oder: Wenn er es in einem größeren Werk doch einmal getan hat, so kann es passieren, dass er sich später eher abfällig über ein solches Werk äußert (wie im Falle der sogenannten „Mondscheinsonate“). Nein, die späten Werke scheinen einen Blick in Welten zu gewähren, die vielschichtiger, ungreifbarer, uneinheitlicher, farbiger, überraschender sind als das, was wir auf Erden erleben. Das von Konzertbesuchern vorzugsweise nach einem Chopin-Abend begeistert hingehauchte Kompliment „Oh, das war ja sooo emotional!“ wird man nach späten Beethoven-Sonaten oder -Streichquartetten kaum hören. Ich bin aber auch nicht sicher, ob jemandem eine solche Äußerung einfiele, wenn er sich nach seinem Tode in einer Welt wiederfindet, die er sich bestimmt nicht so vorgestellt hat …

 

Kommt Ihnen diese letzte Bemerkung weit hergeholt oder gar blasphemisch vor? Nun, in Beethovens vorletzter Klaviersonate in As-dur, op. 110 geht es um Tod und Auferstehung. Lesen Sie hier weiter.

Jürgen Plich
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