Das Weihnachtsoratorium ist keine Tanzparty

 

Was wichtig ist: Natürlich gibt es eine künstlerische Wahrheit. Nur kann die kein Wissenschaftler „objektiv“ festlegen! Es gilt ein Paradoxon: Nur wenn ein Musiker den Geist der Musik erfasst hat, sich dann aber voll und ganz auf sein inspiriertes Musikertum und auf seine völlig individuelle Musiksprache verlässt, kann er diese Wahrheit transportieren. Versucht er sie hingegen mit dem Anspruch wissenschaftlicher Gültigkeit zu referieren, dann zerrinnt ihm der Sinn und der Geist der Musik unter den Händen.

 

Früher hörte ich mir gern Aufführungen von Bachs geistlichen Vokalwerken an. Heute nicht mehr. Denn das Dogma der schon erwähnten „historisch informierten“ Aufführungspraxis verleitet fast alle Dirigenten und Chorleiter dazu, Bachsche Musik in einer Art hemdsärmeliger Sportlichkeit oder in straffer rhythmischer Zucht aufzuführen, die ich banausenhaft finde. Weihevolle Größe? Lange melodische Bögen? Intimität? Tiefe Versenkung? Ekstatischer Jubel? Fehlanzeige. Hören wir einmal eine für die heute gängige Ästhetik typische Beschreibung des Weihnachtsoratoriums: „Bach hatte … im galanten Stil eine schöne Arie auf die nächste folgen lassen. Fast alle stehen in Tanzrhythmen und sind so weltlich beschwingt, wie es im Kirchenraum gerade noch möglich war, dabei von zärtlichen Trieben im melodischen Ausdruck durchsetzt. Bach wählte einen schwungvollen Passepied für das ,Bereite dich, Zion, einen Rigaudon mit Solotrompete für den ,Großen Herrn und starken König …“ Aha, dann hat Bach das Fest der Geburt Christi wohl als gut gelaunte Tanzparty konzipiert statt als erhebende, hymnische, prächtige Feier! Hat er selbst es wirklich so aufgeführt? Keiner von uns war dabei, und keiner weiß auch, ob er nicht wie Schumann von einer genialen Aufführung begeistert gewesen wäre, die in vielem „anders war, als er sich's gedacht“. Ich weiß nur, dass die Menschwerdung Gottes ein Ereignis ist, das vom größten Komponisten der Weltgeschichte mit etwas Passenderem vertont worden sein müsste als mit beschwingter Tanzmusik ...

 

Tanz ist natürlich etwas Schönes, man kann ihn bis zur Ekstase treiben. Es gibt auch in der klassischen Musik rauschhafte Tanzmusik! Aber darum handelt es sich nicht bei den Tanzmustern, die der zitierte Schreiber durchaus richtig in den Arien erkennt. Das sind eher stilisierte barocke Gesellschaftstänze in steifer Robe; gottlob erschöpft sich die Musik nicht darin! Die berühmte Alt-Arie „Bereite Dich, Zion“ sei meinethalben ein Passepied (also eine Art Menuett). Aber wer wollte zu diesem zärtlichen Brautlied das Tanzbein schwingen (und sei es nur in der Vorstellung)? Gibt es nicht hunderte von Passepieds, die wirklich zu diesem Zweck komponiert wurden? In den großen Bach-Werken sind die Standard-Tänze nur Schnittmuster, geben eine Basis, auf deren Grundlage Bach alles komponieren konnte, was er wollte, so wie ja auch Chopin später seine Walzer, Mazurken und Polonaisen nicht zum Tanzen komponierte; wer wollte ernsthaft einen Pianisten, der diese Werke spielt, danach beurteilen, ob man auf sein Spiel tanzen kann? Ein Gleichnis: Wenn man ein Salzkristall erzeugen möchte, hängt man einen Faden ins Salzwasser, dann heften sich die Kristalle an den Faden an. Das Standard-Tanzmuster war für Bach nur der Faden. Der Faden ist am Ende aber völlig bedeutungslos, das Kristall ist es, was uns interessiert!

 

Anders gesagt: Es geht immer nur um die Aussage speziell dieser einen Musik! Um die aufzuspüren, befragt man jede Harmonie, jedes Intervall. Man schaut sich den Verlauf des Stückes an, findet harmonische und melodische Entwicklungen, vielleicht einen Höhepunkt, findet Passagen, die auf den Höhepunkt hinführen, und solche, die von ihm wegführen. Kurz: Man verhält sich so, als wäre man ein Röntgengerät, das das ganze Stück durchleuchten will. Und dann entsteht – die Formulierung ist wichtig: es wird nicht gemacht, sondern entsteht – ein Bild von dem Stück. Zwanglos ergeben sich aus diesem Bild Dinge wie Flüssigkeit oder Zurückhaltung des Tempos, Tongebung, Intensität des Ausdrucks.

 

Ich empfehle den Vergleich folgender verschiedener Aufnahmen der Arie „Bereite dich, Zion“. Unabhängig von Geschmacksfragen (etwa Stimmklang o.ä.) kann man, wie ich finde, den unterschiedlichen Ansatz der Sänger(innen) samt begleitendem Ensembles deutlich wahrnehmen. Während diese Musiker sich bemühen, tiefere Schichten der Musik und des Textes freizulegen, wird hier tatsächlich versucht, ein Passepied zu tanzen, und damit eine Verarmung des Ausdrucks in Kauf genommen. Hochinteressant ist, dass derselbe Dirigent, der für das erste Klangbeispiel verantwortlich zeichnete (Peter Schreier), dieselbe Arie ein zweites Mal aufgenommen hat, welche aber diesmal einen anderen Text hat. Bach hatte nämlich  bei der Komposition des Weihnachtsoratoriums auf bereits fertige Stücke zurückgegriffen. Statt Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben hieß es damals Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen. Und diesmal nimmt der Dirigent, ganz dem schroff abweisenden Textinhalt entsprechend, die Musik auch anders: ruppiger, schneller, wenn man so will Passepied-hafter. Man sieht: Dass eine Musik ein Tanz ist, zwingt nicht zur stereotypen Ausführung. Und vor allem ist es schön zu sehen, wie Bach sich an seine Musik erinnert und ihr nun im Weihnachtsoratorium einen völlig anders gearteten Text mitgibt, der es erst erlaubt, ihre Schönheiten ganz freizulegen. Dafür opfert er den von ihm selbst offenbar als zweitrangig angesehenen Tanzcharakter.

 

Einem Musiker kann man nur empfehlen, sich um die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht viel zu scheren, sondern nur (was aber viel bedeutet) täglich seine Sinne für die Musik bewusst offenzuhalten, und jede noch so unscheinbare Wendung in den Musikstücken, die er spielt, abzuklopfen auf ihre jeweilige Besonderheit. Sie werden sich ihm nach und nach öffnen, und er wird an der Behauptung der Wissenschaft zu zweifeln beginnen, er könne nicht zu einer unmittelbaren Anschauung der Wirklichkeit kommen! Er befrage nur geduldig immer wieder die Musik. Dann wird ihm jedes Intervall, jeder Rhythmus, jede Harmonie zu einer ebensolchen Erscheinung in der Welt der Musik, wie es all die wunderbaren Erscheinungen der dinglichen Welt sind, also die Gesteine, Pflanzen und Tiere, die Mitmenschen, die Erscheinungen am Himmel, Sonne, Mond und Sterne, Licht und Schatten, Wärme und Kälte, und alles andere, was unsere Welt ausmacht, auch die Empfindungswelt. Genau so reichhaltig ist die Welt der Musik, die es zu erforschen und zu entdecken gilt! Wenn dann aber Außenstehende spüren, dass ein Musiker in dieser Welt ganz zu Hause ist wie ein Fisch im Wasser, und wenn ihnen das nicht ganz geheuer ist, dann reden sie, wie der Musikkritiker Molnar, möglicherweise von „Gefühl“ und „Befindlichkeiten“ und grenzen das ab gegenüber ihrem angeblichen „Wissen“. Das aber weiß unter Umständen von der Musik so viel wie der Blinde von der Farbe.

 

Viele Konzertbesucher sehnen sich nach nach dem, was Claudio Arrau „rückhaltloses Sich-Einlassen“ nannte. Sie haben selbst erlebt, dass sich die Wahrheit eines Musikwerkes so zwingend vermitteln kann, dass die Frage nach der „objektiven Richtigkeit“ nicht nur bedeutungslos, sondern geradezu lächerlich erscheint. Die Erinnerung an Künstler von unverwechselbarer, überwältigender Persönlichkeit wie Busoni, Schaljapin, Furtwängler, Knappertsbusch oder Horowitz lässt heute noch unzählige Herzen höher schlagen, ist aber fast immer mit dem wehmütigen Gedanken verbunden, dass ein solch rückhaltloses Musizieren aus irgendeinem Grunde nicht mehr möglich sei. Mag das Musizieren jener Persönlichkeiten oftmals eigenmächtig und eigenwillig gewesen sein: es wirkte doch offenbar tiefer auf die Seele der Zuhörer ein als wir es heute kennen.

 

Wer das nicht glauben will, höre doch zum Vergleich die folgenden beiden Versionen des Air aus Bachs D-Dur-Orchestersuite, und zwar zunächst die durchaus sorgsam gestaltete, geschmackvolle, in jeder Hinsicht untadelige Version von Nikolaus Harnoncourt. Der stelle man dann aber die Fassung mit großem Orchester unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler gegenüber. Ein solches Orchester hatte Bach nicht, nicht solche an der Musik des 19. Jahrhunderts geschulten Streicher. Das ist also nach den „Merker“-Regeln ganz klar „falsch“ musiziert! Aber welch eine andere Welt betreten wir da! Mit welch unendlicher Geduld die Violinen schon den ersten Melodieton anwachsen lassen, der sich in dann die nachfolgenden Figurationen „ergießt“, wie überhaupt die riesigen sich gegenseitig umschlingenden Melodiebögen ausschwingen: das gleicht einem tief bewegenden Natur- oder Seelenereignis, einem Sonnenauf- oder -untergang, einem Gebet oder einer Liebeserklärung. Diese Darbietung verankert das Stück in unserem Herzen. Sie wirkt. Und was wirkt, ist wirklich wahr.

 

NB: Ich möchte noch auf eine interessante Diskussion in den Kommentaren der YouTube-Aufnahme von Furtwängler hinweisen. Sie zeigt, wie heutige Musikhörer (solche und solche) empfinden. Hier einige Ausschnitte:
"Furtwängler easily beats all the authenticity groupies. They are Monsanto. He is the Nature."

("Furtwängler schlägt problemlos all die Authentizitäts-Groupies. Sie sind Monsanto. Er ist die Natur")

 "How can Furtwangler beats authenticity groups without knowlegde?"

("Wie kann Furtwängler die Authentizitäts-Gruppen ohne Wissen schlagen?")

"Music is something not to be understood, but played."
("Musik muss nicht verstanden, sondern gespielt werden!")

Jürgen Plich
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