Wie die Wissenschaft in die Kunst hineinpfuscht

 

Ich widme nun zwei Abschnitte meinem Spezialgebiet, der klassischen Musik. Jeder kann nämlich ein Gebiet, in dem er sich besonders gut auskennt, benutzen, um darin Zusammenhänge zu erkennen und sie auf das Leben zu übertragen. Jeder Teilbereich des Lebens ist ja ein Mikrokosmos, ein Abbild der Welt.

 

In einem Mikrokosmos herrschen bestimmte Gesetze. In der klassischen Musik sind das zum Beispiel die Harmonielehre, der Kontrapunkt, für Instrumentalisten die Regeln der Spieltechnik usw. Wer in den Mikrokosmos voll eintaucht, lernt und beherrscht diese Gesetze bald, und dann fühlt er sich dort wie ein Fisch im Wasser. O, das ist ein gutes Bild: der Fisch im Wasser. Im Wasser gelten ja andere Gesetze als an Land, und nun stellen Sie sich vor, jemand vom Land wollte dem Fisch Vorschläge oder gar Vorschriften machen, wie er sich im Wasser zu verhalten hat. Der Fisch würde sich herzlich bedanken für diese Anmaßung eines Ahnungslosen! Aber der Landbewohner hat erstaunlich gute Argumente: Er weiß alles über Temperatur und Sauerstoffgehalt des Wassers, hat den See oder das Meer kartographiert und vieles mehr. Er weiß viel mehr übers Wasser als der Fisch ...

 

Ja, so etwas passiert uns Musikern recht häufig: Da kommen Leute von außerhalb der Musik und wollen uns erklären, wie wir die Musik machen sollen. Das sind oftmals Wissenschaftler, die allerlei Dinge über Musik gelernt haben, zum Beispiel aus historischen Quellen. Sie erklären uns, welche Instrumente Mozart wie spielte, welche Tempi Beethoven wollte oder wieviele Musiker in Brahms' Orchester saßen. Und sie meinen daraus ableiten zu können, wie musiziert werden soll. Nun ist es zwar vielleicht gar nicht so schlecht für einen Fisch, wenn er zusätzlich zum instinktiv sicheren Umgang mit seiner Umwelt auch ein paar wissenschaftliche Hilfen an die Hand  bekommt, damit kann er gelegentlich vielleicht etwas anfangen. Aber manche Wissenschaftler kennen ihre Grenzen nicht und versuchen die Fische – also die Musiker dazu zu überreden, den Geist, den sie atmen, durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu ersetzen. Das ist von großem Übel, kommt aber häufig vor. Denn es gibt auch Musiker, die nicht mehr wie Fische im Wasser sind, die ihrer Lebensumwelt gar nicht mehr richtig vertrauen, und die für diese Wissenschaftler, die ganz schön selbstbewusst daherkommen, ein gefundenes Fressen sind.

 

Da die Wissenschaft heute also vielfach ungeistig betrieben wird, muss der Geist gegen die Wissenschaft verteidigt werden. Die Wissenschaft kommt immer wieder mit einem Totschlagargument daher; sie sagt: Da niemand die Wahrheit unmittelbar erkennen kann, braucht ihr uns, da nur wir durch unsere Forschung zu objektiven Erkenntnissen kommen können. Damit erklärt sie sich zur einzigen Instanz (das hatten wir schon). Wenn ein Musiker sagt: Moment mal, aber ich spiele das so, wie ich es fühle, kommt sicher ein Wissenschaftler, lächelt verständnisvoll und antwortet: „Tut mir Leid, aber das ist objektiv falsch“. Eine Menge Musiker fallen darauf herein. Sie schauen sich bei jedem Stück, das sie spielen, ängstlich um, ob das auch richtig“ ist, was sie da tun. Inzwischen ist es unter den Musikern, fürchte ich, sogar eine Mehrzahl, die sich lieber auf wissenschaftliche Erkenntnisse verlässt als auf ihr Gefühl. Ich habe einmal in einer Aufführung des Weihnachtsoratoriums von Bach mitspielen müssen, die als historisch informiert“ angekündigt wurde. Informiert“! Was ist denn das für ein Attribut? Über die Qualität einer künstlerischen Leistung entscheidet doch nicht, ob der Künstler richtig informiert“ ist! 

 

Nein, man braucht eine Musik keineswegs genau so zu spielen, wie der Komponist sie sich gedacht hat, es kann trotzdem genial sein. Das zeigt eine schöne Anekdote über Franz Liszt. Der spielte Stücke von Robert Schumann so, dass es den Komponisten nach eigenem Bekunden „ganz ergriff. Vieles anders, als ich's mir gedacht, immer aber genial, und mit einer Zartheit und Kühnheit im Gefühl, wie er sie wohl auch nicht alle Tage hat.“ Viele werden sagen: Nunja, Liszt war ja auch ein Genie, das kann sich nicht jeder erlauben. Es stimmt: Das kann sich nur erlauben, wer den Geist der Musik erfasst! Darauf kommt es an, und das hat Schumann natürlich gespürt. Wer den Geist erfasst, kann sich eine Menge Freiheiten nehmen und sich sicher sein, dass seine Darbietung trotzdem „stimmt“.

 

Wenn man der Wissenschaft folgt statt dem Geist, dann wird der große farbige Kosmos der Musik (die ganze bunte Unterwasserwelt) plötzlich grau und zweidimensional, schrumpft auf die Größe eines beliebigen „Metiers“. In ihm gibt es Routiniers, die alle Regeln kennen, nie etwas Beseeltes zustande bringen und versuchen, anderen das zu verbieten. Richard Wagner hat in seinen „Meistersingern“ mit dem „Merker“ Beckmesser eine herrliche Karikatur eines solchen Menschen gezeichnet. Die „Merker“ dieser Welt haben Macht, sitzen z.B. in Redaktionen oder auf Lehrstühlen, von wo aus die Regeln verbreitet werden. Sie fordern von Musikern je nach Zeitgeist immer etwas anderes. Heute ist es ein „intellektueller“, „analytischer“ Interpretationsansatz. Beispiel: Der Musikkritiker Laszlo Molnar kam bei einem Interpretationsvergleich von Beethovens Violinkonzert zu dem Schluss, „dass man diesem Werk – wie immer bei Beethoven – mit Wissen besser gerecht wird als mit Fühlen. … Sich alleine auf eine Manier oder die eigene Befindlichkeit zu berufen, … das genügt aus meiner Sicht nicht.“ Für den Jahrhundertpianisten Claudio Arrau ist das Gegenteil wahr: „Die Künstler sind ängstlich. Sie schrecken davor zurück, sich rückhaltlos auf etwas einzulassen. Und die jungen Leute haben alle Angst vor Gefühlen“ (aus „Gespräche über Musik“ mit Joseph Horovitz). Das Erschütterndste ist, dass Molnar keine Ahnung davon zu haben scheint, was ein Gefühl überhaupt ist. Er setzt „Fühlen“ einfach mit „Manier“ oder der „eigenen Befindlichkeit“ gleich. Das ist denn doch ein starkes Stück! Liebe, Hass, Begeisterung, Todesahnung, Einsamkeit, Freude, Trauer, Stolz, Mut, Angst, und hunderte weitere ernste, große, wichtige Gefühle – sind das „Manieren“ oder „Befindlichkeiten“?

 

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Jürgen Plich
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